- Hilde Simcha
Autorin: Hilde Simcha lebt in einem Kibbuz bei Tel Aviv. Netzer Sereni. Sie hat ihn nach dem Krieg aufgebaut mit anderen KZ Überlebenden. Hilde ist über 90 und hat ein phänomenales Gedächtnis. Jede Ecke ihrer Heimatstadt Berlin scheint sie zu erinnern, jede Straße in Mitte kennt sie aus jener Zeit, als sie noch Hilde Grünberg hieß und eine behütete Kindheit hatte.
Hilde Simcha: „Meine Mutti hat mich in alle Museen genommen, das alte Museum, das Pergamon-Museum. Jeden Sonntag Vormittag ist meine Mutti mit mir Unter den Linden spazieren gegangen und sind dann an der Oper stehen geblieben und hat im Vorverkauf Karten gekauft. Ich konnte mich erinnern, dass ich in der siebten Reihe gesessen habt, wie ich klein war und Hänsel und Gretel dort gesehen hab.“
Autorin: Ein Herr Schlesinger, der neben der Synagoge Oranienburger Straße lebte, gab Hilde Geigenunterricht. Ihren Vater sah sie 1938 zum letzten Mal, er verschwand in der sogenannten Polenaktion, als die Nazis polnische Juden an die Grenze verfrachteten. Ihre Mutter wurde in Ravensbrück ermordet. Und Hilde kam am 20. April 1943 nach Auschwitz.
Hilde Simcha: „Nach einigen Tagen hat man gefragt: ist hier jemand, der ein Instrument spielt? Und da habe ich gedacht, was, ist das ein Witz oder was? Und da haben die gesagt, ja, ein Orchester wurde hier gegründet zum Aus- und Einmarsch. Ich habe damals ein Abszess gehabt und konnte nicht mehr Violine spielen und habe dann Noten geschrieben, Klaviernoten. Ich weiß bis heute nicht, wie ich das gemacht habe. Klaviernoten sind anders als Geigennoten. Nach Anweisungen von Alma Rosé.“
Autorin: Alma Rosé war die Nichte von Gustav Mahler, sie leitete das berühmte Mädchenorchester und hielt ihre Hand schützend über Hilde. Auch Anita Lasker-Walfisch spielte dort Cello und sagte später einmal über die Dirigentin: an ihrer Wiege stand Gustav Mahler, an ihrer Bahre Josef Mengele. Mit einer Legende räumt Hilde auf. Das Orchester habe zwar in einer Baracke in Birkenau geübt, die in der Nähe der Gaskammern stand, aber nie die Opfer musikalisch dorthin begleitet. Sie hat für die SS spielen müssen, und für Ein- und Ausmärsche.
Hilde verdankt nicht nur Alma ihr Leben, sondern auch einem Jungen, der ihre Ballerinaschuhe sah und wusste, dass niemand mit solchen Schühchen lange lebt. Er schenkte ihr Skischuhe, mit denen sie Auschwitz und Bergen Belsen sommers wie winters überstand. Zu Beginn wurden ihr die Haare geschoren, aber als Orchestermitgliedern durfte sie sie wachsen lassen. Aus den Leisten der Betten hat sie sich Lockenwickler geschnitzt.
So besaß Hilde Grünbaum eine Ausgabe von Goethes Faust, einen Rilke, die Lockenwickler, einen Füllfederhalter, den ein Lagerkommandant ihr überlassen hatte zum Transkribieren und ein Samtkästchen. Und dann stand sie 1945 vor dem Viehwaggon, der sie nach Bergen Belsen bringen sollte. Ihre Sachen waren noch im Lager. Sie rannte zurück und holte alles.
Hilde Simcha: „‘Da hat man mich später einmal gefragt, wie konntest du den Mut haben aus der Reihe raus zu gehen und zurück zum Block? Und meine Antwort ist darauf immer gewesen, dass das Leben nichts wert war dort, dass ich gesagt habe, mein Niveau lasse ich mir nicht nehmen.‘
‚Und zum Niveau gehört Faust, Rilke, die kleine Dose, die Lockenwickler?‘
‚Ja.‘
‚Haben Sie alles nach Yad Vashem gegeben?‘
‚Ja, ich konnte mich schwer trennen. Das war eine Überwindung.‘“
Autorin: In der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem liegen jetzt Hildes Habseligkeiten. Hilde ist nach der Befreiung nach Israel gegangen, hat geheiratet und zwei Söhne großgezogen. Ihr Enkel leitet heut den Kibbuz. Sie wollte immer Architektin werden, hatte sogar ein Stipendium für London, aber ihre Kinder brauchten sie. Aus Hilde Grünbaum wurde Hilde Simcha. Simcha bedeutet Freude. Zum Abschied sage ich ihr, welch ein Glück sie mit diesem wunderschönen Kibbuz habe, wo alle sich um sie kümmern. Sie schaut mich streng an und antwortet mit ihrer Berliner Schlagfertigkeit: was heißt hier Glück? Ich hab‘ ihn aufgebaut!
Autorin: Maria Ossowski