Zeitzeuge - Raphaël Esrail
Raphaël Esrail ist 1925 in Lyon geboren. Nachdem Lyon 1942 von den Deutschen besetzt wurde, spezialisierte er sich in der Résistance auf das Fälschen von Papieren. 1944 wurde er verhaftet und nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Damals war er 19 Jahre alt. Kurz vorher hat er die Liebe seines Lebens, Liliana Badour, kennengelernt, die wie er nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde und das Vernichtungslager überlebte. Am 18. Januar 1945 begann für ihn der sogenannte Todesmarsch. Erst im Mai 1945 wurde er durch die Amerikaner befreit. Nach der Befreiung hat er Liliana Bardour wieder gefunden, sie haben geheiratet. Heute haben sie eine Tochter und zwei Enkelkinder.
Ich bin gern in Berlin. Weil die Deutschen und die Franzosen inzwischen gute Freunde geworden sind. Andererseits - wenn ich "Berlin" höre, dann erinnert mich das auch an etwas, das ich nicht vergessen kann.
Nun, was ist an jenem Tag, dem 8. Januar 1944, passiert? Ich verließ die Fakultät in Lyon, wo ich damals studierte. Ich war 18 Jahre alt und engagierte mich während des Studiums in der Widerstandsbewegung. Wir stellten damals hauptsächlich Dokumente her, damit insbesondere Juden sich verstecken konnten, um Verhaftungen zu entgehen. An diesem Tag ging ich also direkt von der Fakultät in ein Büro, in dem Papiere gefälscht wurden. Am Place des Célestins in Lyon. Und da tappe ich in eine Falle der französischen Volkspartei, der französischen Faschisten also und der Gestapo. Es wurde jeder verhaftet, der in das Büro kam.
Ich wurde dann in das Gefängnis von Montluc geschickt, ein Militärgefängnis. Ich wurde dort gefoltert, na ja, was die Nazis eben gut können. Dann wurde ich als Jude eingruppiert und nach ins Lager nach Drancy geschickt. Dort traf ich kurz darauf, also Ende Januar, dieses junge Mädchen, dessen Name Liliane Badour ist, ... in das ich mich als junger Mann verliebt habe. Man könnte sagen: Liebe auf den ersten Blick.
Es war um den 25. Januar 1944 herum, als ich nach Drancy geschickt wurde. Dort wurden Männer und Frauen getrennt. Ein Sammellager von dem aus Juden, deportiert wurden. Ich traf dort zwei Jungen, von denen einer kurze Hosen anhatte. Und er erzählte mir: "Wir kommen aus Biarritz, sie haben uns abgeholt". Und dann ist es keiner der Jungs, sondern es ist ein junges Mädchen, das zu mir kommt und sagt: "Kümmere Dich bitte um meine beiden Brüder Henri und René. Wir kommen aus aus Biarritz:" Sie erzählte mir ihre Geschichte.
Wir blieben acht Tage in Drancy und wurden alle am 3. Februar 1944 deportiert. Bevor wir los mussten, sagte ich zu diesem jungen Mädchen, von dem ich vollkommen eingenommen war: "Mademoiselle, erlauben Sie mir, Sie zu küssen?" Es war ein sehr platonischer Kuss auf beide Wangen. Und sie sagte zu mir: "Hören Sie, wenn wir später ankommen…!", und es war dieser Kuss, der mich während der Deportation und allem was dann kam gestärkt hat. Und der mich 74 Jahre lang mit meiner Frau zusammen leben ließ.
Ich habe sie die ganze Zeit im Lager nicht gesehen. Aber es ist eine sehr außergewöhnliche Geschichte. Ich im Lager Auschwitz, sie im Lager Birkenau. Ich wollte wissen, ob sie in das Lager zurückgekehrt ist. Ich wusste, dass ihre beiden Brüder Henri und René, am ersten Tag vergast wurden. Das war schrecklich und ich fragte mich wie es ihr wohl ging. Es war gerade eine deutsche Fabrik errichtet worden, die Union-Werke hieß. Dort musste ich arbeiten. Die Fabrik lag zwischen den Lagern Auschwitz und Birkenau. Dort waren Männer aus Auschwitz und Frauen aus Birkenau. Natürlich war es verboten, das wir miteinander sprachen. Doch einmal konnte ich Blickkontakt mit einer Frau aufnehmen und ich fragte sie: Kennst Du vielleicht Liliane Badour? Und dank dieser außergewöhnlichen Frau, die später übrigens auch nach Frankreich zurückkehrte, Fanny Segal, konnte ich Kontakt zu Liliane aufnehmen. Ich fragte sie, ob Liliane am Leben sei und wie es ihr gehe. Und sie antwortete: ja, sie lebt, aber es geht ihr sehr schlecht.
Dann gab es eine schreckliche Selektion im April 1944. Viele der Frauen mussten in die Gaskammer gehen. Doch Liliane konnte dem entgehen. Und zu dieser Zeit traf ich einen jungen Mann, der Ingenieur war, und auf der École supérieure d’Electricité gewesen war, der griechischer Herkunft war und der Deutsch sprach und in Frankreich studiert hatte - sein Name war Jacques Stroumza. Er war der einzige Ingenieur, der sich in der Fabrik frei bewegen konnte. Für uns war es verboten uns frei zu bewegen, zu sprechen ... alles war verboten. Aber er war der Einzige, ihm wurde vertraut. Und ich sagte zu ihm: "Jacques, es gibt ein Mädchen, das Chemie studiert hat. Sie ist großartig, Du kannst sie für die Arbeit in der Fabrik brauchen. Geh, sieh sie Dir an, schau mal."
Und so holte er Liliane und noch zwei andere Frauen in die Fabrik zum arbeiten. Aber sie arbeitete immer tags in der Fabrik und ich nachts. Also sah ich sie nicht. Nur ein Mal traf ich sie. Ein paar Sekunden habe ich sie gesehen. Als es am 18. Januar 1945 zur Evakuierung des Lagers Auschwitz kam, war es ein großer Zufall... Ich weiß nicht, ob ich nicht weiß, wie man es sonst nennen kann. Es ist unglaublich.
Ich marschierte mit Kolonne von Männern unter Bedingungen, von denen ich hier nicht berichten werde, aber diese Todesmärsche waren schrecklich. Und eine Frauenkolonne hielt auf einer Straße an, die auf unsere zuführte. Und ich jemanden - es war sie! Oh Liliane! Oh Raphael! In dieser schrecklich kalten Nacht, aber mit einem Mond, der strahlte, würde ich fast sagen. Der Mond warf ein ganz außergewöhnliches Licht auf die weiße Ebene. Das war alles. Und ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist und bin gegangen. Ich bin dann unter extrem schwierigen Bedingungen gegangen - nach Groß-Rosen dann nach Dachau
Nun, als ich nach Frankreich zurückkam, wusste ich nichts über sie, ich wusste, dass sie in Biarritz lebte, aber ich kannte ihre Adresse nicht, gar nichts. Und einige Zeit später, ich denke zwei Monate später, erfuhr ich, dass sie lebt. Sie erzählte mir ein bisschen von ihrer Geschichte und lud mich ein, sie in Biarritz zu besuchen. Und das habe ich im August getan. Ich bin im Mai 1945 nach Frankreich zurückgekehrt und habe sie im August 1945 gleich getroffen. Und von da an haben wir uns nie mehr getrennt.
Interview : Julia Riedhammer