Zeitzeugin - Regina Steinitz - Ihre Geschichte
Regina Steinitz hat viele Jahrzehnte gebraucht, um über ihre Kindheit in der NS-Zeit sprechen zu können. Erst mit 80 Jahren entschloss sie sich ihre Erinnerungen zu veröffentlichen – zum Gedenken an alle mutigen Menschen, die ihr und ihrer Zwillingsschwester Ruth halfen, zu überleben. Aber vor allem auch zur Erinnerung an alle die, deren Leben, wie sie sagt, gewaltsam beendet wurde.
Ich bin geboren in Berlin 1930 mit meiner Zwillingsschwester. Unsere Familie hat sich sehr gefreut. Die Zwillinge, die beiden Püppchen aus der Auguststraße. Wir waren auch goldig. Wir waren wirklich zwei süße Püppchen.
Wir hatten eine schöne Kindheit. Solange mein Vater noch da war, war noch alles normal, auf der Straße war nichts mehr normal, aber auf der Straße hat man uns schon mit Steinen beworfen, und hat man uns angesehen, wir kommen aus einer jüdischen Schule. Und Hitlerjugend hatte auch schon etwas zu sagen. Wir wurden schon verachtet und angegriffen. Man hatte schon gesehen, wie man fromme Juden angreift. An den Bärten zieht und hinwirft und schlägt. Das war die SA. nicht mal die SS, die SA, die mit den Braunen, die durch die Straßen gingen und wanderten, oder mit Fackeln - das alles haben wir gesehen wir wohnten in Berlin.
Ich bin 36 eingeschult worden in die jüdische Mädchen-Volksschule in der Auguststraße. Die war eine wunderbare Schule. In dieser Zeit fing es schon an, dass man jüdische Männer abholte. Und ins Konzentrationslager Sachsenhausen brachte. Ich bin mit Sachsenhausen aufgewachsen. Angst vor Sachsenhausen.
Mein Vater kam aus Polen. Langsam hat man alle jüdischen Leute abgeholt. ... Da kamen dann die Mädchen in die Schule und weinten bitterlich. In der Nacht hatte man ihren Vater abgeholt und dann hat die Lehrerin keine Stunde gegeben, sondern sie erst einmal getröstet. Alle haben wir dieses Mädchen getröstet. Am nächsten Tag kam ein anderes Mädchen, man hatte in der Nacht ihren Vater und den Bruder, der 14 Jahre alt war, abgeholt. So ging das, und wir haben in der Schule viel trauriges erlebt.
Und unsere Lehrer haben sich wirklich bemüht, dass wir es auch lustig hatten.
Mein Vater hat zu seinem Glück 1938 Deutschland verlassen. Ich habe mich immer geärgert, wenn Menschen mich gefragt haben, wie konnte Dein Vater Euch verlassen, sich retten und Euch und die ganze Familie hinterlassen? Diese Frage konnten nur Menschen stellen, die die Zeit nicht verstanden haben. Denn so etwas konnte nur in der Nazi-Zeit passieren.
Wir haben verstanden, erst holt man die Männer ab, nicht die Kinder und nicht die Frauen. Und wer hätte glauben können damals, dass man Frauen und Kinder auch abholen wird und sogar vergasen wird? Daran hat niemand denken können, dieser Gedanke ist niemandem gekommen.
Mein Vater war also der Erste, der weg war. Und meine Mutter und wir waren alle glücklich darüber. Dann ist jedoch die Krankheit meiner Mutter, sie litt an Tuberkulose, ausgebrochen. Sie litt noch zwei Jahre. Meine Mutter ist gestorben am 7. Januar 1940. Dann wurde unsere Wohnung geschlossen, und mein Onkel, ihr Bruder, nahm uns zu sich. Und wir konnten da nicht bleiben (…) weil wir jüdische Kinder waren, und sie waren christlich, sodass wir - sie konnten uns nicht halten. Mein Onkel scheinbar ist auf die jüdische Gemeinde gegangen, und die haben ihm gesagt, bringen sie die Mädchen in dieses jüdische Kinderheim.
Wir kommen da die Treppen rauf (…) und dann sollten wir uns von meinem Onkel verabschieden. Und er war so erschüttert. Mit Tränen in den Augen und wir auch. Und er hat sich schnell verabschiedet, ist gegangen und er hat nur gesagt, ich komme Euch besuchen. Aber damals durfte kein Christ in ein jüdisches Kinderheim gehen. Oder wir zu unseren christlichen Verwandten. Verstehen Sie, das war nicht erlaubt, nachdem man den Judenstern bekommen hat. Da war das so. Solange man den Judenstern nicht hatte, wusste man nicht immer, ist die jüdisch ist die christlich? Verstehen Sie? Aber nachdem man den Judenstern tragen musste, konnte ich meine Verwandten niemals mehr besuchen. Sie kamen auch nicht zu uns. Es war immer gefährlich.
Und stellt euch vor, das war nach dem Tod, einen Monat nach dem Tod meiner Mutter, und wir sind beide in einem Bett gelegen, und das habe ich niemals beschrieben. Ich sage es jetzt zufällig.
Meine Mutter stand uns vor Augen.
Wir sind sehr nett aufgenommen worden, wir wurden in ein Zimmer gebracht, wo acht Mädchen lagen. Und wo jede so ein Schicksal hatte wie wir.
Irgendwann sind wir abgeholt worden. Wir wussten auch nicht, wohin. Auf Transport, hat man gesagt. Es ging in Richtung Osten. Das haben Sie schon alle gewusst. Da gibt es Ghettos. Verstehst du das? Sie haben Polen besetzt, da haben sie Ghettos. Wer hat an einem Konzentrationslager oder eine Gaskammer gedacht? Aber jedenfalls, da war ein Mädchen, die ist zufällig entlassen worden. Wir wissen nicht, warum. Und der hat meine Schwester schnell einen Zettel zugesteckt, sie hat an unsere Verwandten geschrieben, dass wir abgeholt worden sind. Sie sollten wissen, wir sind nicht mehr im jüdischen Kinderheim, das ist alles.
Dieses Mädchen, das den Zettel übergeben hat, trug einen Judenstern und sollte den Zettel eigentlich in den Postkasten werfen, sie sollte nicht rauf gehen, Gott behüte zu meinem christlichen Verwandten. Aber sie klopfte an die Tür und mein Onkel war da und meine Tante. Und die sagte ihnen, sie können sich gar nicht vorstellen, was sich da tut. Holen sie die Kinder da raus!
Und plötzlich wurden wir gerufen. Und mein Onkel und wir haben uns umarmt und mein Onkel hat gesagt Sie sehen doch, das sind meine Nichten.
Sie heißen Ruth und Regina Anders. Da ist ja die Geschichte, die ich beschrieben habe. Drei Namen.
Ich heiße Robert Anders und die heißen Regina und Ruth Anders sind die Kinder von meiner Schwester. Sie wissen gar nicht, wer der Vater war, und so sind wir heraus.
Ich bin hundert Mal gestorben und einmal am Leben geblieben.
Autoren: Christine Thalmann, Julia Riedhammer