Jüdisches Kinderheim in Berlin (historisches Foto)
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Zeitzeugin - Regina Steinitz - Überleben im Kinderheim

Regina Steinitz war zehn Jahre alt, als sie mit ihrer Zwillingsschwester Ruth in das jüdische Kinderheim in der Fehrbelliner Straße 92 kam. Wenige Tage zuvor ist ihre Mutter an Tuberkulose gestorben, ihr Vater konnte sich schon zwei Jahre zuvor in die USA retten. Anders als die meisten ihrer Freundinnen und Freunde aus dem Kinderheim hat sie und ihre Schwester die Shoah überlebt. Sie hat es sich zu ihrer Lebensaufgabe gemacht, an ihre Freunde zu erinnern.

Alles im Leben ist Zufall, zum Beispiel, dass wir leben und die anderen nicht mehr leben Das ist auch etwas, das einen belastet.

Meine Freundinnen und Freund von einst leben nicht mehr, sind umgebracht worden. Sie können nicht mehr sprechen. Ich bin ihr Sprecher und erzähle, wer sie waren und was für Menschen sie gewesen sind.

Ich will damit auch einem kleinen Teil von sechs Millionen Menschen ein Gesicht, einen Namen geben. Denn von den sechs Millionen ermordeten Menschen ist jeder ein  Individualist gewesen, jeder Mensch hatte sein eigenes Leben. Einige liegen mir sehr am Herzen. Sie sind für mich wir Geschwister gewesen. Ich liebte sie. Ich habe mit ihnen einen Teil meines Lebens verbracht.

Meine Mutter ist gestorben am 7. Januar 1940. Und wir sind dann in das jüdische Kinderheim gekommen: in der Fehrbelliner Straße 92.

Wir sind sehr nett aufgenommen worden, wir wurden in ein Zimmer gebracht, wo acht Mädchen lagen. Und wo jede so ein Schicksal hatte wie wir.

Zum Beispiel der Ernstel und der Herbert Czerniak. Ganz süße Zwillinge, nicht eineiig, einer war blond mit blauen Augen, der andere war dunkel mit dunklen Augen, sie waren  ganz verschieden. Sie waren mit den kleinen Kindern im zweiten Stock. Da hat man Betten gehabt und da haben Erwachsene aufgepasst. Natürlich. Aber wir haben am Tage mit denen gespielt, und die wurden sehr geliebt. Die waren schon von ihrem dritten Lebensjahr da. Als ich 1940 kam, waren die schon vier Jahre alt.

Sie sind mit sechs Jahren auf einen Transport gegangen. Sie sind nach Riga gebracht worden. Da waren viele Deutsche Berliner dabei, die dorthin gebracht wurden, in das Ghetto von Riga. Am nächsten Tag hat man sie alle in den Wald gefahren und erschossen. Von Berlin. Transport. Ghetto. Erschossen.

Ich habe gedacht, alle wurden in Auschwitz getötet. Was hier in dem Fall gar nicht wahr ist.

Eine andere Geschichte ist die von Ruth und Thea Fuß.

Das waren zwei intelligente und nette, gute Mädchen, gute Freundinnen, und unsere Freundschaft war sehr tief. Der Vater war auch aus Polen. Der Mann hatte in der Fehrbelliner Straße (…) eine Schneiderei, die ziemlich groß war in einer Wohnung.

1938,. nach der Kristallnacht wurde er abgeholt und nach Sachsenhausen gebracht.

Die Ruth war ein Jahr jünger als wir, und sie ging in eine Klasse unter mir. Sie ging auch in die Auguststraße zur Schule in die Jüdische Mädchenvolksschule, die Thea war in meiner Klasse.

Wir gingen die Torstraße entlang, zur Schule. Jeden Morgen Linienstraße über den Koppenplatz. Von der Linienstraße zum Koppenplatz.

Und wir sehen da eine große Grube, man gräbt aus, eine große Grube, eine Baugrube. Man will da bauen. Und damals hat man noch nicht den Judenstern getragen. Wir waren  noch ohne Judenstern. Wir kommen dort vorbei, wir gucken in die Grube, neugierig wie Kinder sind. Und schauen nach unten und plötzlich schreit die Thea, sie fängt an, zu schreien. Papachen, Papachen! Sie hatte ihrem Vater schon zwei Jahre nicht gesehen. Ende 39, 40 und 41, Papachen, sie hat ihren Vater erkannt. Der war natürlich, da waren Fremdarbeiter, und da waren Häftlinge. Er war ein Häftling von Sachsenhausen, man hatte sie dort hingebracht. Und der Vater, das kann ich nicht vergessen, hebt seinen Kopf hoch und schaut zu ihr hin, legt den Finger auf den Mund, weil dort die SS war mit ihren Pistolen und Gewehren und so weiter. Und wenn jemand flüchten wollte oder jemand, verstehen sie. Er hatte Angst, dass sie auf seine Tochter schießen werden. Oder auf ihn schießen, weil sie ihn erkannt hatte. Sie war derartig erschüttert und traumatisiert, sie weinte bitterlich. Sie konnte gar nicht reagieren.

Ich habe sie natürlich gleich umarmt und noch jemand hat sie umarmt, auch meine Schwester und noch mehr, die mit uns gegangen sind. Wir sind immer in Gruppen gegangen. Wir haben sie in die Schule geschleppt und zu unserer Direktorin gebracht, unten, wo jetzt ein Restaurant ist in diesem Haus für amerikanisches Essen, da waren die Büros. Und unsere Direktorin hat sie getröstet.

Wir wurden alle zu Schwestern, wir liebten uns alle gegenseitig, und wir spielten zusammen. Wir lasen Bücher zusammen, wir machten Schularbeiten zusammen, wir räumten das Haus auf zusammen. Alles wurde zusammen getan. Ich konnte es gar nicht begreifen, als ich hörte, dass sie erschossen worden sind, in diesem Wald in Riga.

Ich hoffe, dass sie die zwei Jungs auf die Arme genommen haben und dass sie zusammen erschossen wurden. Weil die die zwei Jungs so gut kannten und auch liebten.

Autorinnen: Julia Riedhammer, Christine Thalmann